Himmelsstürmer im Ersatzkaffee

Holsatia Elmshorn und die Deutsche Amateurmeisterschaft 1966 und 1967 / von Uwe Wetzner

26. November 2014, 08:52 Uhr

Holsatias Himmelstürmer: Vorsitzender Poser (stehend von links), Obmann Marx, Maaß, Brosch, Darms, Lindner, Wrage, Trainer Dettmann, Ludwig. Knieend von links: Glißmann, Ristow, Kölln, Rodermund, Renken, Stendorf, Reimers. Foto: "Sport"

Der mühselige Weg zurück auf den Radarschirm im Westen des Speckgürtels ist in vollem Gange. Der derzeitige Rang zwei in der Fußball-Kreisklasse 4 würde im kommenden Sommer zum direkten Aufstieg in die Kreisliga berechtigen. Vielleicht nicht gerade der Sensationsstoff, aus dem Schlagzeilen gefertigt werden, aber Niedergang lehrt Demut. Jedenfalls wenn es gut läuft. Und dann dieser Name, sperriger geht es kaum: „Holsatia im Elmshorner MTV“.

Vor einem halben Jahrhundert war das anders, damals noch als selbständiger Verein Holsatia Elmshorn. Die Aufregung über die jungen Himmelsstürmer hatte als Tagesgespräch zeitweise sogar den Allzeit-Lokalhelden und Elmshorner Ehrenbürger Fritz Tiedemann verdrängt, einen der erfolgreichsten deutschen Springreiter aller Zeiten. Auf den ersten Blick wirkt das vielleicht ein wenig übertrieben für einen drittplatzierten Drittligisten. Holsatia Elmshorn hatte im Sommer 1964 mit sieben Punkten Vorsprung die Meisterschaft der Germania-Staffel der Verbandsliga für sich entschieden. Auch in der darauf folgenden Saison sorgte die junge Truppe in der Landesliga für Furore. Hinter den beiden Regionalliga-Aufsteigern, Meister Barmbek-Uhlenhorst und Vizemeister SC Sperber, erreichten die Rot-Weiß-Blauen auf Anhieb Rang drei. Nach dem Abstieg von 1951 war nichts weniger gelungen als die Rückkehr in Hamburgs höchste Spielklasse.

Damit verbunden war auch das Anrecht, in der Deutschen Amateurmeisterschaft gegen Berlins Meister Rapide Wedding anzutreten. Mit diesem „Muckefuck“, dem Ersatzkaffee, war es allerdings so eine Sache. Vielen Beteiligten stand der Sinn wohl eher nach Bohnenkaffee. Der „Sport“ legte sich dem DFB und seinem fünften Rad am Wagen gegenüber keinerlei Zurückhaltung auf: „. . . ein Stiefkind im deutschen Fußball, obgleich der DFB immer wieder mit großem Pathos behauptet, er sei doch im Grundsätzlichen Gralshüter der Amateure“, war für ihn dieser Wettbewerb. Fast hat man das Gefühl, einer vorweggenommenen Diskussion über die zerfledderten Spieltage und abenteuerlichen Anstoßtermine in Zeiten des Bezahlfernsehens zu lauschen.

„Wir müssen uns etwas einfallen lassen“

Holsatias Wrage schaut genau hin, wie Glißmann per Kopf den zweiten Treffer erzielt. Foto: "Sport"

Die Aufregung war aber nicht nur durch den Erfolg auf dem Spielfeld verursacht worden. Um nach Berlin zu reisen, konnte man sich im Frühsommer 1966 nicht einfach eine Fahrkarte kaufen, in den Zug setzen und losfahren. Die Durchreisebestimmungen und Grenzkontrollen der DDR entfalteten nicht gerade eine einladende Wirkung. So entschied sich der Klub, seine Vorzeigemannschaft „als Anerkennung für die Leistung in den Genuss einer Flugreise kommen zu lassen.“ Man beeilte sich noch, darauf hinzuweisen, dass bis dahin keiner der Spieler je geflogen war.
Der DFB entsprach sogar der Bitte der Elmshorner, das Hinspiel auf den Samstag vorzuverlegen, um noch rechtzeitig zum Wochenanfang zurückkehren zu können. Auch finanziell zeigte sich der DFB großzügig: Holsatia erhielt für 15 Spieler ein dreitägiges Tagegeld über jeweils 14 Mark zuzüglich zweier Übernachtungen für elf Mark und eine Fahrtkostenerstattung für eine Zugfahrt erster Klasse. Den Differenzbetrag zum Flugpreis musste der Klub aus eigener Tasche aufbringen. Eine Woche zuvor hatte Holsatias Trainer Hermann Dettmann schon einmal die beschwerliche Flugreise auf sich genommen, um den Gegner zu beobachten. Sein Fazit: „Eine sehr gute Amateurmannschaft. Sie ist uns spielerisch überlegen. Wir müssen uns etwas einfallen lassen. Sie ist aber zu packen.“

Die Mannschaft Holsatias war in wesentlichen Teilen das Ergebnis einer großartigen Jugendarbeit. Torhüter Rodermund und die Feldspieler Renken, Reimers und Ristow hatten im Sommer 1965 zu den „Jungmannen“ – die wurden damals so genannt – Holsatias gehört, die den hamburgischen Jugendpokal gewonnen hatten. Kampfkraft, Zusammenhalt und eine außerordentliche Kameradschaft galten als Stärken dieses Teams, das Trainer Hermann Dettmann um den Kapitän Herbert Stendorf herum geformt hatte.
Rodermund – Kölln, Renken – Darms, Stendorf, Brosch – Ristow, Glißmann, Reimers, Wrage, Maaß – in dieser Aufstellung trat Holsatia in beiden Duellen gegen den Berliner Meister an. Am 21.Mai 1966 säumten 1.500 Zuschauer den historischen Fußballgrund Berlins am Gesundbrunnen, der alten Heimstätte von Hertha BSC, „nur (!) 1.500“, wie der „Sport“ auch optisch monierte.
Und Holsatias Trainer hatte sich etwas einfallen lassen. Er hatte seiner jungen Mannschaft ein tiefgestaffeltes WM-System verordnet, in dem die beiden Seitenläufer zunächst einmal mit Abwehraufgaben betraut waren und zwei hängenden Halbstürmern. Dettmann gab gewissermaßen den „Riegel-Hermann“.

„Überdurchschnittliches Landesliga-Niveau“

Holsatias Wrage (links) beobachtet, wie Mittelstürmer Reimers gegen Rapides Torhüter buchstäblich den Kürzeren zieht. Foto: "Sport"

Bis zur 70. Minute hielt das Bollwerk, dann unterlief Holsatias 19jährigem Keeper Rodermund nach einigen sehenswerten Paraden ein katastrophaler Schnitzer, als er sich eine Ecke selbst ins Tor schaufelte. Vier Minuten später landete ein Sonntagsschuss der Berliner in Holsatias Giebel, das 3:0 erzielte Rapide zwei Minuten vor dem Abpfiff. „Und dennoch:“, so gestattete sich der Korrespondent anzumerken, „Niemand vermag zu sagen, ob es nicht sogar einen Hamburger Sieg gegen die technisch reiferen Berliner gegeben hätte, wenn der Ball in der 16.Spielminute nach einem kapitalen Schuss von Maaß ins Tornetz geflogen wäre, statt vom Holz des vorderen Pfostens aufgehalten zu werden.“ Bemerkenswert ist natürlich auch, dass die Torgestänge zu der Zeit noch aus nachwachsenden Rohstoffen gefertigt wurden. Der Torpfostenbruch von Mönchengladbach sollte noch fast genau fünf Jahre auf sich warten lassen.

Trotz eines nahezu aussichtslosen Unterfangens, die Berliner noch aus dem Wettbewerb zu werfen, versammelten sich am Pfingstsonntag 1.500 Zuschauer auf der Wilhelmshöhe, für Holsatia-Verhältnisse eine traumhafte Kulisse. Sie kamen trotz einer 2:4-Niederlage Holsatias einigermaßen auf ihre Kosten. „Über die ganze Distanz gab es die allgemein mit großer Spannung erwartete prächtige Fußballshow um Prestige und Lorbeer. Beide Mannschaften spielten temperamentvoll mit letztem Einsatz auf und demonstrierten überdurchschnittliches Landesliga-Niveau.“ Zumindest für den „Sport“ war die deutsche Amateurmeisterschaft in diesem Augenblick Bohnenkaffee.

Fachpresse voll des Lobes

Der schmeckte ähnlich wie im Hinspiel. Holsatia vergab einige Hochkaräter, traf in Gestalt von Wrage per Kopf einmal den nachwachsenden Rohstoff und musste sich dann von den clevereren Berlinern vormachen lassen, wie man mit wenigen Möglichkeiten zur Halbzeit 2:0 in Führung gehen kann. Entmutigen ließen sich die Elmshorner auch durch das 0:3 kurz nach Wiederanpfiff nicht. Glißmann sorgte in der 68.Minute mit einer schönen Direktabnahme für das 1:3, doch ehe das Gebräu überkochte, ließen die Berliner mit dem 1:4 genügend Dampf ab, um das 2:4, erneut durch Glißmann, nur noch mit einem milden Lächeln abnicken zu können.

Trotz des Ausscheidens war die Fachpresse voll des Lobes über die junge Mannschaft Holsatias: „Sie hat sich alles in allem dennoch prächtig geschlagen und Hamburgs Interessen mit voller Hingabe und letztem Einsatz würdig vertreten.“

Im Jahr darauf wiedeholte sich die Fußball-Geschichte. Erneut wurde Holsatia Dritter, musste im Sommer 1967 dem SV St.Georg und dem Langenhorner TSV den Vortritt lassen. In der Deutschen Amateurmeisterschaft kam das Aus ebenfalls schon in der Vorrunde, in der Holsatia mit 1:2 und 0:0 denkbar knapp am späteren Deutschen Amateurmeister STV Horst Emscher scheiterte.
1971 verabschiedete sich Holsatia endgültig aus Hamburgs höchster Spielklasse, die Deutsche Amateurfußball-Meisterschaft verschwand 1998 vom Radar. Konzentrieren wir uns also darauf, was bis zum Sommer 2015 in der Kreisklasse 4 so alles passiert.